Schaden durch Insektizide unterschätzt
Neonikotinoide bedrohen die Biodiversität weit stärker als gedacht. Versuche mit Weichwanzen zeigen: Die Bewertung muss reformiert werden.

Weichwanzen sind gegenüber dem Wirkstoff Acetamiprid 11.000-mal empfindlicher als Honigbienen. (Foto: Jan Erik Sedlmeier/Universität Hohenheim)
Das Insektizid Acetamiprid ist für bestimmte Insekten mehr als 11.000-mal giftiger, als die vorgeschriebenen Empfindlichkeitstests an Honigbienen vermuten lassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, in der Forschende der Universität Hohenheim die gravierenden Folgen dieses Insektizids aus der Gruppe der Neonikotinoide für Nicht-Zielinsekten aufgedeckt haben.
Die Untersuchungen haben sich auf Weichwanzen fokussiert, eine ökologisch wichtige Insektengruppe. Bereits geringe Mengen – wie sie durch Abdrift oder Oberflächenkontamination entstehen – führen zu massiven Rückgängen dieser empfindlichen Tiere. Das Fazit der Forschenden: Die aktuelle Risikobewertung von Pestiziden in Europa muss zum Schutz der biologischen Vielfalt dringend reformiert werden. Angesichts der Verlängerung der Zulassung von Acetamiprid bis 2033 fordern die Forschenden eine grundlegende Reform des europäischen Risikobewertungssystems. Unter anderem sei es wichtig, die Empfindlichkeitstests auf weitere Insektengruppen auszuweiten.
Weichwanzen (Miridae) sind im Gegensatz zu Bienen oder bunten Schmetterlingen leicht zu übersehen. Sie stehen stellvertretend für eine ganze Tiergruppe, die pflanzenfressenden Insekten, die im Ökosystem eine Schlüsselrolle einnehmen. Doch weltweit zeigen Studien Rückgänge in Biomasse, Vielfalt und Anzahl von Insekten, unter anderem durch den intensiven Einsatz von Insektiziden.
Versuche im Labor und Feld
Das Neonikotinoid wirkte auf die Weichwanzen als Beispielinsekten um ein Vielfaches verheerender, als Zulassungstests vermuten lassen. Jan Erik Sedlmeier, Entomologe an der Universität Hohenheim sagte: „Unsere Versuche zeigen, dass das Insektizid Acetamiprid für manche Weichwanzen über 11.000-mal toxischer ist als für Honigbienen.“ Dafür haben die Forschenden in Laborexperimente ermittelt, welche Dosis notwendig ist, um 50 Prozent der Individuen einer Population zu töten. Auch im Feldexperiment reagierten alle vorkommenden Weichwanzenarten sehr empfindlich auf das Neonikotinoid. In Flächen, die Feldränder von behandelten Flächen simulierten, nahm die Insektenzahl nach zwei Tagen um bis zu 92 Prozent ab. „Dabei werden an den Feldrändern geschätzt nur zwischen 30 und 58 Prozent der Pestizidmenge im Feld erreicht – Konzentrationen, die normalerweise nicht als derart gefährlich angesehen werden“, betont Jan Erik Sedlmeier.
Selbst bei Weichwanzen, die erst zwei Tage nach einer Behandlung mit nur 30 Prozent der üblichen Insektizidkonzentration auf die Pflanzen kamen, waren die Einbußen verheerend. Die Zweifleck-Weichwanze überlebte in diesem Szenario gar nicht.
Wirkstoff lange nachweisbar
Darüber hinaus konnten die Forschenden Rückstände des Wirkstoffs bis zu 30 Tage nach der Anwendung in den behandelten Pflanzen nachweisen. „Eine ständige Einwirkung von Neonikotinoiden kann somit nicht nur ganze Populationen von Weichwanzen drastisch verringern. Sie kann auch die Zusammensetzung von Insektengemeinschaften verändern, indem insektizidtolerantere Arten mit der Zeit dominieren könnten“, erklärt Sedlmaier.
Das Insektizid Mospilan mit dem EU-zugelassenen Wirkstoff Acetamiprid wird durch Sprühen ausgebracht und in Feldkulturen wie Raps und Kartoffeln, in Obstgärten, im Weinbau und in der Blumenzucht insbesondere gegen beißend-saugende Schädlinge eingesetzt. Als Nervengift wirkt Acetamiprid sowohl als Kontakt- sowie auch als systemisches Insektizid, da die Chemikalie von Pflanzen aufgenommen und in ihrem Gewebe verteilt werden kann. Pflanzenfressende Insekten nehmen die Substanz dann mit ihrer Nahrung auf.