Pflücken erlaubt!
Andernach wird mit Permakultur zur essbaren Stadt
Kohl, Birnen, Weintrauben frei verfügbar für jedermann - ein kleines Schlaraffenland wächst zwischen den mittelalterlichen Mauern von Andernach. Das Konzept der essbaren Stadt lässt Bürger wieder den Kreislauf von Säen, Pflegen, Ernten erleben und wandelt städtische Grünflächen in eine urbane Landwirtschaft.
"Hören Sie mal rein!", sagt Lutz Kosack und schaut lächelnd einer dicken Hummel hinterher. Vor den Füßen des Naturschutzbeauftragten der Stadt Andernach summt und brummt es in den bunten Blüten direkt am Straßenrand. Der Blühstreifen ist einer von Kosacks Lieblingsorten in der Stadt am Rhein. Denn hier geht sein Konzept so richtig auf. Hier fressen sich die fleißigen Insekten satt, wenn ihre üblichen Nahrungsquellen nicht mehr blühen: jene Hunderte Obstbäume, Tomatensträucher und andere Nutzpflanzen, die in Andernach zum Stadtbild gehören wie andernorts kurzgeschorene Rasenflächen.
2010, im Jahr der Biodiversität, nahm Andernach an einem Aufruf der Kommunen teil, Städte und Gemeinden nachhaltiger und klimafreundlicher zu gestalten. Die Stadt entschied sich, besonders die Artenvielfalt der Nutzpflanzen darzustellen und sich dem Konzept der "Essbaren Stadt" anzuschließen.
300 verschiedene Tomatensorten zogen in die Stadt ein und trugen ordentlich Früchte. Nach zwei weiteren Schwerpunktjahren mit Bohnen und Zwiebeln kamen Obstbäume, Salate, Zucchini, Beeren und Kräuter sowie zwei Dutzend Hochbeete in der gesamten Stadt dazu. Um den wenigen Platz in der Innenstadt zu nutzen, wurden auch Kästen auf Fensterbänken bepflanzt und so der Anbau in die Vertikale verlängert.
Auch ein kleiner Weinberg fand Platz mitten in der Stadt. Denn Andernach ist nicht nur essbar, sondern auch trinkbar. Das zeigt sich ebenso an zahlreichen Hopfensträngen, die sich in den Himmel strecken und deren Blüten von einer heimischen Brauerei zu Bier verarbeitet werden. In einem etwas außerhalb liegenden Stadtteil wurde kürzlich zusätzlich ein 14 Hektar großes Areal angelegt, das nach dem Prinzip der Permakultur auch den Anbau von Getreide, Gemüse und Obst in größerem Umfang zulässt und das Bild der urbanen Landwirtschaft vervollständigt.
Was ist Permakultur?
Unter Permakultur versteht man das Konzept einer nachhaltigen Landwirtschaft, in der natürliche Kreisläufe und Ökosysteme nachgeahmt werden. Pflanzen und Tiere werden so miteinander eingesetzt, dass sie zeitlich unbegrenzt funktionieren. Zum Beispiel wird auf Monokulturen und den Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden verzichtet und stattdessen auf geschlossene Stoffkreisläufe gesetzt. Eine besondere Rolle in der Permakultur spielt die Vielfalt von Arten, die genetische und ökologische Vielfalt sowie die kulturelle Vielfalt im Hinblick auf Anbautechniken und die Berücksichtigung regionaler Besonderheiten.
Wie Permakultur funktioniert und was das Besondere daran ist, zeigt dieser Beitrag aus der Reihe "W wie Wissen" der ARD.
Ein besonderes Schmuckstück mitten in der Stadt findet sich im kleinen Wassergraben. Mit nur ein paar Stufen abwärts entflieht man dem städtischen Straßenlärm und taucht ein in eine grüne Oase. Am steilen Hang blühen seltene Heil- und Nutzkräuter, die früher hier heimisch und weitverbreitet waren. So wie das Färberwaid, das schon im Mittelalter als das regionale Indigo galt und seiner Färbekraft den Namen verdankt. Wer den Blick von der zarten Blütenpracht abwenden kann, findet zur anderen Seite Gemüsebeete mit Kohl, Kürbis und Mangold, aber auch Obstspaliere, die sich an die mittelalterlichen Mauern lehnen, wo Salbei, Thymian und Co. ihren Duft verbreiten.
Andernach ist mit mehr als 2000 Jahren nicht nur eine der ältesten Städte Deutschland, deren Stadtbild durch die noch gut erhaltene Stadtmauer geprägt ist. Aufgrund ihrer Lage mitten im Rheintal ist sie auch eine der wärmsten Städte der Bundesrepublik und bietet den Nutzpflanzen ein mediterranes Klima. So gedeihen hier nicht nur heimische Arten, sondern auch Granatäpfel oder Bananenstauden und Mandelbäume - ganz ohne Gewächshaus. "Man kann schon sagen, dass wir den Begriff der Regionalität erweitern, denn die Pflanzen wachsen hier prächtig ohne viel Hilfe. Sie finden bei uns Bedingungen vor, die sie sonst eher am Mittelmeer haben", weiß Lutz Kosack zu berichten.
Ernte ist bei Bürgern heiß begehrt
Unter seiner Planung wurde die Stadt zu einem urbanen Paradiesgarten, der rund ums Jahr von den Bürgern beerntet werden kann und soll. "In Andernach gilt die Devise 'Pflücken erlaubt!'", betont Kosack, "und das wird sehr gern angenommen." Es habe nicht lang gedauert, bis die Bürger verstanden hätten, dass sie sich wirklich einfach so bedienen können. Beim Spaziergang durch die Stadt sieht man keine Verbots- oder Gebotsschilder, keine Einzäunungen, keine Barrieren; alle Beete und Bäume sind frei zugänglich. Hin und wieder erklärt ein kleines Schild, was hier gerade wächst. Ernten darf jeder, wann er möchte. Deshalb muss man sich gerade beim Gemüse ranhalten, denn die Bürger haben mittlerweile genau im Blick, wann der Brokkoli reif ist oder ob die Tomaten noch ein paar Tage brauchen. "Natürlich gab es am Anfang Bedenken, ob die Anlagen auch wertgeschätzt und nicht beschädigt oder zerstört werden", erzählt Kosack, doch die Erfahrung der letzten zehn Jahre zeige genau das Gegenteil. Die Bürger nutzen die Flächen sehr gern zur Selbstversorgung, gehen pfleglich mit Pflanzen und Beeten um, schließlich müssen sie nichts anderes tun, als zu ernten und zu naschen.
Das Konzept Essbare Stadt
Bereits 2008 wurde die Idee der "edible city" in England entwickelt, und das Miteinander und das Bewusstsein für Ernährung in einer Stadt zu stärken. 2009 gründete sich in Kassel der Verein Essbare Stadt, dessen Konzept sich Andernach anschloss. Dabei geht unter anderem darum, die Städte anpassungsfähiger in Bezug auf globale Bedingungen wie Klimawandel und Energiearmut zu machen.
Auch sollen die lokale Lebensmittelversorgung gesteigert und städtische Flächen zur nachhaltigen Nutzpflanzenproduktion erschlossen werden. Außerdem lernen die Bürger mehr über Techniken des Gartenbaus und der Lebensmittelproduktion.
In Schuss gehalten wird die essbare Stadt nämlich von der "Perspektive", einer örtlichen Maßnahme für Langzeitarbeitslose. Gemeinsam mit Profigärtnern pflegen sie die Anlagen, setzen neue Pflanzen, jäten Unkraut. Dabei kommen keinerlei synthetische Spritzmittel zum Einsatz. Der gesamte Anbau erfolgt ökologisch. Darauf legt die Stadt großen Wert und sensibilisiert so die Bevölkerung für Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Ein Projekt, das Schule macht. Mehr als 150 Städte, darunter Berlin, Essen oder Dresden, haben sich bisher entschieden, ihre Grünflächen mit Nutzpflanzen statt aufwendigen Blumenbeeten zu bestücken und das Konzept essbare Stadt im Rahmen von Projekten oder Initiativen umzusetzen - Tendenz steigend.
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