Back to the Roots
Mutmacher: Drei Geschwister kehren zurück
Eine Zeit lang waren die Geschwister Katharina, Julian und Nicolas über Deutschland verstreut. Jeder machte sein eigenes Ding. Doch ihre Wege führten sie zurück in den elterlichen Betrieb. Jetzt schreiben sie ihr eigenes Kapitel der Jahrhunderte alten Geschichte von Gut Kragenhof.
"Ihr seid richtig" steht auf der Palette, die an einem Baumstamm lehnt. Eben war man noch auf der vierspurigen A7, nicht mal 15 Minuten später ist da nur noch ein schmaler Waldweg. Quasi eine mehr als ein Kilometer lange Sackgasse. Sie führt zum Gut Kragenhof. Wer von dort aus weiter will, der braucht ein Boot. Denn: Das Gut liegt auf einer Halbinsel bei Kassel, mitten in einer Flussschleife der Fulda. Von der Nähe zur Stadt ist nichts zu spüren. Stattdessen: Abgeschiedene Idylle, wunderschöne Natur, absolute Ruhe.
Auf dem Hofkomplex treffen Alt und Neu aufeinander. Vor einem historischen Stallgebäude aus Stein mit aufgesetztem Fachwerk steht ein komplett neues Haus aus Holz. Hinter den alten Stallungen entdeckt man mobile Hühnerställe. In einer riesigen Halle hängen weiße Lampions von der Decke. Ein Mitarbeiter erweckt die Veranstaltungslocation gerade aus dem Winterschlaf und bringt sie in Schuss für die neue Saison.
Ein geschichtsträchtiger Ort
An vielen Ecken wird deutlich, dass das Gut Kragenhof ein geschichtsträchtiger Ort ist. 1126 wird der Kragenhof erstmals urkundlich erwähnt. Kurz darauf wird er zum Kloster, später zum Besitz verschiedener Landgrafen, Kurfürsten und Kantone. 1901 geht er an die Stadt Kassel über, die dort eine Walderholungsstätte einrichtet. Im Zweiten Weltkrieg wird die dann zerstört, der Kragenhof wird wieder landwirtschaftlich genutzt.
1983 kaufen Antonio Merz und seine Frau Ulrike Möller-Merz den maroden Hof für 300.000 Mark. Sie ziehen aus Stuttgart an die Grenze zwischen Hessen und Niedersachsen und krempeln das Gut komplett um. "Er war schon immer ein Macher, Schaffer, Visionär", sagt Katharina Stark (39) über ihren Vater. Der Agrarwirt etabliert eine nachhaltige ökologische Landwirtschaft und eine erfolgreiche Bäckerei auf dem Hof. Seine Frau, eine Lehrerin, entwickelt pädagogische Angebote. Die beiden werden zu Pionieren der Öko-Szene.
In Hochzeiten führt die Familie, zu der inzwischen auch drei Kinder gehören, zwei Läden in Kassel und ist auf sieben Wochenmärkten vertreten. "Aus heutiger Sicht ist es nicht nachvollziehbar, wie sie das gestemmt haben", sagt Sohn Nicolas Merz (30). Doch irgendwann ist die Luft raus. Die Eltern schalten ein paar Gänge zurück, konzentrieren sich letztlich vor allem auf die Bäckerei. Die Tierhaltung liegt brach, der Ackerbau wird stark reduziert. Bis nach und nach die drei Kinder in den Betrieb einsteigen und seit der Hofübergabe im März 2018 ihr eigenes Kapitel in der Geschichte des Kragenhofs schreiben.
Dabei war es lange Zeit gar nicht abzusehen, dass tatsächlich alle drei zum Hof zurückkehren. "Jeder von uns konnte sich frei entwickeln", sagt Katharina, "aber es hat sich irgendwie gefügt." Alle Geschwister waren zum Studium, für den Job oder Auslandsreisen teils lange Zeit weg, doch ihre Wege führten sie schließlich wieder zum Kragenhof zurück.
Alle Wege führen wieder zum Gut Kragenhof
Der erste, der seine Zukunft auf dem Gut fand, war Julian Merz (35). Er hatte in Würzburg studiert und war zwischenzeitlich vier Jahre lang auf Weltreise, bevor er 2012 zurückkam, um seine Eltern zu unterstützen. Er sah nachts in der Bäckerei nach dem Rechten, kümmerte sich um die Auslieferung der Backwaren und übernahm schließlich die Verantwortung für den beständigsten Geschäftsbereich des Gutes. "Er hat der Bäckerei einen ordentlichen Schub gegeben", sagt sein Bruder Nicolas. Aus damals knapp 30 Filialen, die die Gutsbäckerei beliefert, sind bis heute 83 geworden. Neun Bäcker, zwei Auslieferer und zwei Reinigungskräfte beschäftigt der Betrieb inzwischen.
Dass sich der Diplom-Pädagoge und –Psychologe und zweifache Vater auch um die Bildungsangebote des Gutes kümmert, liegt nahe. Dazu gehört vor allem das Projekt "Außerschulisches Leben und Lernen", das seit elf Jahren in Kooperation mit einem Kasseler Gymnasium angeboten wird. Die Achtklässler, die dort teilnehmen, sollen die Gelegenheit bekommen, ihre eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Unter der Anleitung von Fachleuten können sie in den vier Bereichen Kunst, Sport, Handwerk und Musik eigene Projekte anstoßen. "Sie können das tun, was sie schon immer mal machen wollten", erklärt Julian.
Der 35-Jährige hat aber auch große Visionen: ein eigenes Oberstufeninternat auf dem Gut. 100.000 Euro haben die Geschwister bereits in die Idee investiert und ein neues Wohnhaus mit Platz für bis zu zwölf Schüler errichtet. Ab spätestens 2021 will die Familie dort junge Erwachsene aus kritischen Elternhäusern aufnehmen und fördern. Das Konzept findet Anklang: Die Deutsche Wertestiftung unterstützt das Vorhaben mit 250.000 Euro.
Doch nicht nur die großen Schulprojekte finden auf dem Hof statt, insgesamt beherbergt das Gut jährlich rund 25 Veranstaltungen. Viele davon sind Hochzeiten, die die Paare größtenteils selbst organisieren, andere müssen bis ins Detail vor Ort geplant werden. Die Fachfrau dafür ist Katharina. "Ich bin ganz gut im Organisieren", sagt sie bescheiden. Ihre Erfahrungen sammelte sie bei der Messe Hannover, wo sie während und nach ihres Event- und Messemanagement-Studiums arbeitete. Später zog sie mit ihrem Partner nach München und arbeitete dort im Vertrieb eines Verlages. Als die Beziehung in die Brüche ging, nahm sie sich eine Auszeit und entschied sich schließlich 2015 wieder auf den elterlichen Hof zurückzukehren. Dort hält sie seitdem die betriebswirtschaftlichen und organisatorischen Strippen in der Hand. "Das Backoffice ist der wichtigste Ort auf dem Hof", sagt sie selbst.
Dass auch der jüngste Bruder Nicolas nach seinem Studium der Agrarwissenschaften auf dem Familienhof einsteigt, ist irgendwie selbstverständlich. Denkt man. Für ihn selbst war es das lange Zeit nicht. "Es war eine schwierige Phase, etwas zu finden, mit dem man sich identifiziert", sagt er. "Aber du hast es am besten von uns dreien hinbekommen, indem du dir etwas Eigenes geschaffen hast", sagt Katharina. Während seiner Zeit auf einem anderen Hof lernte Nicolas mobile Hühnerställe kennen und traf seine Entscheidung. Die Familie nahm Geld in die Hand, beantragte Förderungen von Bund und EU und schaffte innerhalb eines halben Jahres zwei mobile Ställe an. Inzwischen leben rund 2400 Legehennen auf dem Kragenhof. Und ihre Eier sind begehrt. "Wir könnten noch fünf mobile Ställe hinstellen, wenn es nach der Nachfrage geht", sagt Nicolas. Doch die Geschwister legen viel Wert auf organisches Wachstum und eine ausgeglichene Work-Life-Balance.
Auch den Ackerbau baut Nicolas erst nach und nach weiter auf. Momentan wächst auf dem 20 Hektar umfassenden Ackerland vor allem Getreide für die Bäckerei. In diesem Jahr baut Nicolas außerdem Öllein an, den er in einer regionalen Mühle verarbeiten lässt. Zum Kragenhof gehören zusätzlich 5 Hektar Grünland und 25 Hektar Wald. Aus dem Holz entstehen Hackschnitzel für die Heizung der Häuser. Über Solaranlagen auf den Dächern wird selbst Energie produziert. "Wir haben nicht den Anspruch, komplett autark zu leben, aber wir wollen uns, wo es geht, schon selbst versorgen", erklärt Nicolas.
Unter den Geschwistern hat jeder seine Spezialgebiete. "Wir haben die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt – und das war das Beste für den Hof", sagt Nicolas. "Es funktioniert für mich aber auch nur in dieser Dreierkonstellation", ergänzt Katharina. Dass es so gut funktioniert, erfordert aber auch viel Arbeit, nicht nur im Betrieb, sondern vor allem innerhalb der Familie. Vor der Hofübergabe gab es gemeinsame Gespräche mit einem Familiencoach. "Es gibt oft Konfliktpotenzial. Eine neutrale Person kann helfen, die Emotionen einzufangen", erklärt Katharina. Außerdem haben gemeinsame Auszeiten – auch mal außerhalb des Betriebs – einen positiven Nebeneffekt: "Nur so entstehen neue Ideen", sagt Nicolas. Viele Landwirte seien in Traditionen gefangen und hätten keine Kapazitäten, alles zu überdenken. "Die muss man sich aber nehmen." Einmal wöchentlich haben die Geschwister ein festes Treffen angesetzt, bei dem es nur ums Geschäftliche geht. Aber sie achten auch darauf, abseits der Arbeit Zeit miteinander zu verbringen. Zweimal wöchentlich werden Stühle und Tische zusammengetragen und mit Kind, Kegel und Mitarbeitern gegessen.
Neben den Eltern können nun auch alle drei Familien der Kinder hauptsächlich von den Einnahmen des Hofs leben. Alle bis auf Katharinas Familie leben sogar auf dem Gut selbst. "Wir sind dankbar, dass der Hof so ein wichtiges Standbein für sein kann", sagt Katharina. Wie die Zukunft aussieht, können die Drei noch nicht genau sagen. Solange sie sich noch weiter strukturieren, sei noch kein Platz für weitere Pläne. "Wir lassen da auch immer viel auf uns zukommen", sagt Katharina, "aber ich hab' ein gutes Gefühl."
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